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Zwischen Effizienz und Verschwendung Teil 1: Ein Blick auf das Gesundheitswesen durch die Augen einer jungen Ärztin – ein Erfahrungsbericht

Im Gesundheitswesen weiss man, wie wichtig die Stimmen der Patientinnen und Patienten sind. Die meisten Gesundheitsorganisationen propagieren, dass die Patientinnen und Patienten an erster Stelle stehen. Auf der anderen Seite erwarten die Patientinnen und Patienten, dass die Zeit – ihre Zeit – effizient genutzt wird. Lean Institutionen konzentrieren sich auf das Wesentliche und darauf, die Bereiche der Verschwendung, die keinen Mehrwert für Patientinnen und Patienten und die Mitarbeitenden darstellen, zu eliminieren. Sie versuchen, Formen der Verschwendung im System zu beseitigen. Eine junge Ärztin hat beides erlebt. Sie weiss, was es bedeutet, in einer Lean Institution zu Arbeiten und was es bedeutet, wenn man Verschwendungen nicht aktiv im Betrieb beseitigt. In diesem Artikel beschreibt sie, wie ein Tag in beiden Institutionen normalerweise abgelaufen ist und wo sie die Unterschiede erlebt hat.

Der folgende Artikel ist ein Erfahrungsbericht einer jungen Ärztin in 5 Teilen: Teil 1 widmet sich dem Thema „Start in den Tag“. Der Teil 2 hat die Visite im Fokus. In Teil 3 dreht sich alles um die OP-Planung. Teil 4 findet auf der Notfallstation statt. Und im abschliessenden Teil 5 ist das „Tagesende“ im Fokus. Die Autorin hat in ihrer Karriere schon unterschiedliche Stationen hinter sich. Aus diesem Erfahrungsschatz vergleicht sie „Klinik A“, funktionierend nach klassischen Klinikprozessen und „Klink B“, eine nach Lean Prinzipien funktionierende Klinik. Sven Schüpbach hat die Erkenntnisse aufbereitet und steht gerne für Fragen zur Verfügung.

Ich bin gerne Ärztin. Grundsätzlich. Die langen Arbeitszeiten, die Bereitschaftsdienste, die hohe Arbeitsbelastung, die hierarchischen Strukturen, die grosse Verantwortung, regelmässige Überstunden – das macht mir nichts aus. Grundsätzlich, denn diese Voraussetzungen stehen beim Arztberuf im Jobbeschrieb und sind eigentlich bereits jedem jungen Medizinstudenten glasklar. Es wird einem von Beginn an eingetrichtert. Ich hatte damals aber eine etwas andere Vorstellungen davon. Die Überstunden und hohe Arbeitsbelastung resultieren nämlich – wie ich mittlerweile weiss – nicht aus zeitkritischen oder gar lebensrettenden ärztlichen Tätigkeiten. Nein, ich reize meinen Überzeitindikator aus, weil ich täglich 25 Berichte zu schreiben und die gleiche Anzahl zu korrigieren habe, Anträge an Krankenkassen stelle, Fragebögen von der Staatsanwaltschaft beantworte, Termine für Patienten koordiniere, Hausärztinnen für Medikamenten- und Diagnoselisten hinterher telefoniere, die Visite dokumentiere, und warte. Ich warte auf das Pflegefachpersonal, auf den Lift, auf das Klinikinformationssystem, welches so oft nicht funktioniert. Ich warte auf die Anästhesie, auf meinen Oberarzt, auf Patientinnen, welche gerade auf Toilette sind. Die administrative Arbeit, mit der das Arztpersonal von heute konfrontiert ist – es ist unsinnig und aufwendig.

Seit mehr als 3 Jahren arbeite ich als Assistenzärztin für Chirurgie. Ich liebe meinen Job. Ich liebe meinen eigentlichen Job als Ärztin, wenn ich Diagnostik betreibe, Patienten betreue und untersuche, Wunden versorge, Drainagen einlege, operiere. Meinen zweiten Job, den Job als «Sekretärkoordinationsdministrationsfachfrau» – muss nicht sein. Es geht auch einfacher. Die administrativen Arbeiten müssen erledigt werden. Aber viele Abläufe und Prozesse im Spital können so optimiert werden, dass aus 2 Überstunden täglich nur 15 Minuten werden.

Die ersten zwei Jahre meiner Weiterbildung habe ich an einer Klinik verbracht, welche zuvor durch walkerproject gemäss den Prinzipien des Lean Managements umstrukturiert wurde. Mir war das zu dieser Zeit nicht bewusst, schliesslich war es meine erste Stelle als Ärztin. Seit einem Jahr bin ich an einem kleineren, ländlicheren Spital beschäftigt. Dieses hat keine Lean Management Prinzipien umgesetzt. Von heute auf morgen bin ich in einer anderen Welt aufgewacht. Als erfahrene Assistenzärztin ging ich davon aus, dass ich in einem kleineren Spital weniger Überstunden scheffeln werde, aber das Gegenteil ist der Fall. Ich fühle mich an beiden Standorten sehr wohl am Arbeitsplatz und bin beiden Kliniken dankbar für die Teamintegration und fachliche, hochwertige Weiterbildung, die ich erhalte. Die Prozesse laufen unterschiedlich ab und haben grossen Einfluss auf meine Arbeitsweise, meine Überstunden und damit meine Work-Life-Balance, welche in den Gesundheitsberufen unendlich wichtig ist. Ich möchte im folgenden Abschnitt ein paar Beispiele und Gegenüberstellungen vergleichbarer Situationen an beiden Spitälern schildern. Im Folgenden beziehe ich mich auf Klinik A (non-lean) und Klinik B (lean).

Start in den Tag – « Der frühe Vogel fängt den Wurm»

Klinik A (non-lean)

Offizieller Arbeitsbeginn ist um 07:00 Uhr. Zwischen 05:30 Uhr und 06:00 Uhr stehe ich auf der Matte, stelle den Computer an und logge mich in das Klinikinformationssystem ein. Dieses ist wie immer langsam. Ich öffne das Klinikinformationssystem immer zweimal auf meinem Desktop – so habe ich ein Back-Up, falls es mal wieder hängen bleibt. Ich drucke mir eine Patientenliste aus. Auf der stehen wie immer alle Patienten, der gesamten chirurgischen Klinik plus die der «chirurgischen Disziplinen» wie Urologie und Orthopädie – wobei wir für diese Patientinnen eigentlich nicht zuständig sind. Auswahlmöglichkeiten zum Drucken einer Liste mit nur den Patienten, für welche ich heute zuständig bin, gibt es nicht. Um den Überblick zu behalten, beginne ich also die Patientennamen durchzustreichen, welche ein anderer Assistenzarzt betreut. Das kostet mich gut 7-10 Minuten, denn ich muss im Klinikinformationssystem nachschauen, welche Patientin an welche Klinik (Chirurgie, Orthopädie, Urologie, Handchirurgie) angegliedert ist. Das ist auf der Liste nicht ersichtlich. Wenigstens kann ich in diesem Zeitraum den OP-Plan laden, das dauert. Ich hoffe heute stürzt das Klinikinformationssystem nicht ab während der OP-Plan lädt. Nun gehe ich meine Patientinnen durch und stelle mir meine To-Do-Liste für den Tag zusammen. Ich habe heute 18 Patienten. Davon 8 Neueintritte seit gestern. Ich markiere die Patientinnen, die von einem Belegarzt betreut werden, denn diese werde ich später telefonisch mit diesem besprechen müssen und nicht mit meinem Oberarzt. Auch hierfür muss ich das Klinikinformationssystem konsultieren. Bei Patienten, die über Nacht notfallmässig oder am Vortag elektiv eingetreten sind, ergänze ich Diagnosen, schreibe eine Verlaufszusammenfassung für den üblichen Verlauf vor und erstelle bereits einen provisorischen Bericht, Arbeitszeugnis, Rezept und ggf. Physiotherapieverordnung. Jeder Patient erhält bei Austritt einen Bericht. Jeder. Auch wenn der Eingriff oder Spitalaufenthalt noch so kurz und unkompliziert war. Bei 8 Neueintritten schreibe ich also gut 8-Mal den gleichen Verlauf (unkomplizierter postoperativer Verlauf, Entlassung in gutem Allgemeinzustand, usw.), das gleiche Prozedere und erstelle mehr oder weniger die gleichen Rezepte.
Sobald ich damit fertig bin, werfe ich einen Blick auf den OP-Plan, der endlich geladen hat. Ich bin heute in einer laparoskopischen Cholezystektomie, einer Pilonidalsinusexzision und in einer Rektosigmoidresektion eingeteilt. Ich freue mich darüber, gleichzeitig bin ich froh, so früh im Haus zu sein, so kann ich den ganzen Schreibkram erledigen. Ich werde heute wohl von geschätzt 08:00 bis 15:00 Uhr im OP sein. Da bleibt keine Zeit für Schreibkram. Visite wird zwischendurch gemacht, das schaffe ich. Da ich bis eben nicht wusste, was mich heute im OP erwartet, lese ich mich noch rasch in die Fälle ein. Die ersten beiden Operationen werde ich wohl selbst machen dürfen, da will ich gut vorbereitet sein. Um 07:00 Uhr rücke ich aus auf Station, um die heutigen Entlassungen vorzunehmen. Zur regulären Austrittszeit (10:00 Uhr) werde ich ja im OP sein, daher bringe ich die Papiere jetzt vorbei. Ich entschuldige mich für die frühe Störung, insbesondere bei den Patienten, welche ich wecken musste. Ich hoffe sie können die Informationen im verschlafenen Zustand aufnehmen. Die zuständige Pflegefachperson ist nirgends zu finden, daher lasse ich im Pflegebüro ausrichten, wer gehen darf und wann ich ungefähr auf Visite kommen werde. Ich habe keine Zeit zu warten, ich muss noch die beiden Patientinnen auf der Tagesklinik begrüssen, welche ich nachher operieren werde. Um 07:30 Uhr marschiere ich in den Rapportraum. Später werde ich mehrere Anrufe verschiedener Pflegefachpersonen erhalten, wann ich denn auf Visite käme.

Klinik B (lean)

Offizieller Arbeitsbeginn ist um 07:00 Uhr. Ich betrete mein Büro um 06:40 Uhr, starte den Computer, öffne das Klinikinformationssystem und drucke mir eine Liste mit meinen Patienten aus. Die Auswahlmöglichkeiten für die Patientenlisten sind auf die verschiedenen Stationen und Zuständigkeiten zugeschnitten, so dass ich mit einem Klick alle meine Patientinnen auf einer übersichtlichen Liste zusammengetragen habe. Auf der Liste sehe ich gleich, welche Patienten welcher Fachrichtung angegliedert sind und weiss dadurch welcher Facharzt/Belegärztin zuständig ist. Ich habe heute 12 Patienten, 5 Neueintritte seit dem Vortag. 3 davon sind elektive Routineoperationen, da bereite ich nur das Rezept und das Zeugnis vor. Einen Bericht muss ich bei unkompliziertem Verlauf nicht extra erstellen, denn der Operationsbericht dient sogleich als Austrittsbericht. Einer der Neueintritte ist ein Patient mit einer Hirnerschütterung, der über die Notaufnahme aufgenommen wurde. Er wird für 24h neurologisch überwacht und darf heute Nachmittag austreten. Ich erstelle ein Rezept und ein Zeugnis. Einen separaten Bericht braucht es auch hierfür nicht. Ich füge lediglich dem Notfallbericht einen kleinen Verlauf hinzu. Der Notfallbericht zählt als Austrittsbericht. Ich öffne das OP-Programm und schaue, ob es Änderungen gab. Bereits seit Beginn der Woche weiss ich, was mich heute erwartet: eine laparoskopische Cholezystektomie, eine Port-à-Cath Implantation und eine tiefe anteriore Rektumresektion. In die Fälle habe ich mich bereits gestern eingelesen. Da ich heute früh und lange im OP sein werde, habe ich die Entlassungen von heute bereits gestern Abend vorgenommen. Ich begebe mich gegen 07:00 Uhr auf Station, um mich bei der Pflege über Probleme zu erkundigen. Die zuständige Pflegefachperson ist direkt auffindbar, sie steht auf dem Gang vor den Patientenzimmern. Ein Patient hatte wohl Atemnot in der Nacht, bei diesem gehe ich kurz ins Zimmer und schaue nach, wie es ihm geht. Er kommt mit 2 Litern Sauerstoff gut zurecht, die Vitalzeichen sind stabil. Er wirkt entspannt. Ich teile der Pflegefachperson mit, dass ich zwischen den Operationen auf Visite kommen werde, sie nickt und schreibt die ungefähre Visitenzeit an eine Tafel. Um 07:20 Uhr laufe ich in den Rapportraum.

Start in den Tag - mit Lean Management System

Das ist der erste Teil einer Serie von Erfahrungsberichten einer jungen Ärztin. Hier geht es zum zweiten Teil.

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